DIE BUCKLINGE WELT - R.G. Fischer Verlag - 1990, Frankfurt - ISBN 3-89406-186-3 Schau bitte wie wir, wie du, ich, wie die unseren, wie die Polen heute stehen? Wie breit Europa ist, und eigentlich auch außerhalb Europas sieht man die neuzeitlichen Zigeuner, die neuzeitlichen, ewigen, wie die jüdischen Wanderer, die nach einem Groschen wittern, mit dieser eintcheidenden Änderung, daß diese nunmehr Polen sind. Wie sind die neuen Juden in der Diaspora, nur marschieren, marschieren tun wir anders als die Juden, weil sie immer zusammenhielten, während wir... Ja mit uns ist es schon ein Jammer, denn ein einziger Pole ist eine Attraktionen, zwei Polen bedeuten einen politischen Streit, drei Polen einen Volksaugstand! Das mußtest du, Leski, zugeben: Revolutionen, Anti-Revolutionen, Aufstände, Reiterattacken, liegen uns im blut. Kaum taucht die Chance auf, den eigenen Mut zu beweisen, schon lassen wir die Welt erstarren! Uns liegt das Heldentum! Saragossa, Saragossa, ewiges Saragossa, auch dann wenn es 1920: 'Warszawa', 1939 'Westerplatte', 1941 'Luftkrieg bei London - Flugzeugdivision 303', 1944 'Monte Cassino' heißt... Nicht einmal die Ungarn mit ihrem leidenschaftlichen Charakter halten mit uns Schritt. Ich nenne hier nur die Jahre, die wie große Kometen über unserer modernen Nationalgeschichte glühend hängen, 1956, 1970, 1978, 19...! Unser Blut zu opfern, wenn über uns weiß-rote Fahnen mit dem Adler wehen, werstehen wir vortrefflich. Wenn du, lieber Leski, die Bilder von unserem Grottger betrachtest, dann erstarrst du: Er probiert der ganzen Welt zu zeigen, daß wir stets bereit sind, mit säbel, nackten Fäusten und unerschrockenen Heldentum aufzuwarten. Die Zeit der unenschrockenen Heroismen aber gehört, mein Lieber, nur noch in die Bücher von Karl May hinein. Auf unseren endlosen, fruchtbaren Felden, auf diesen Niven an der Weichsel, wo die Birken gen Himmel wachsen, verkümmert fast alles. Kannst du, Leski, mein lieber Freund Leski, mein allerteurster Freund Leski begreifen, in Italien füttert man die Schafe mit Aprikosen, damit sie ein saftiges, delikates Fleisch liefern? In Österreich zahlt der Staat dafür, daß die kühe weniger Milch geben, denn man hat für diese Milch keinen Käufer mehr, in Frankreich bekommt man eine Prämie wenn die Erde, die gute, gesegnete Erde, für ein Jahr Brachgelassen wird, bei uns aber... Nein! Wir haben unseren Stolz, der uns nicht erlaubt, von anderen zu lernen! Nein, unser Heldentum erlaubt uns nicht, uns von anderen belehren zu lassen. Hör mir bitte zu, Leski, anstatt immer nur Versuche zu starten, mich ewig zu unterbrechen! Um uns ist eine neue Welt ausgebrochen. Es gibt keine Zeit für Saragossa mehr! Zugegeben, unsere Offiziers-Uniformen, viereckigen Kappen, glänzenden Stiefel und mit Silber gefaßten Säbel sehen verdammt attraktiv aus, aber im Westen sieht du das alles nur als Relikte aus einer Operette. Wem um Gottes Willen, imponiert heute in Holland eine Militäruniform, wem um Gottes Willen, möchtest du heute in Schweden mit schmucken Militärgewändern Angst einjagen? Auch hier sind wir betrogen worden - man hat uns lauter Entzücken über Offiziersmonturen mit der Muttermilch beigebracht - und wir werden noch immer stets betrogen. Wie sonst kann man die Polen in einer Zange halten? Alles ist ein Betrug! Es muß einen eine pure Eifersucht übermächtigen, wenn man die kleinen Schweizer, Belgier, Koreaner, Singapurer, Kanadier sieht, die mit Computern so umgehen, wie wir in unserer Jugend mit einem Fußball, übrigens einem Fußball aus Fetzen... Deine ungeduldige Handbewegung signalisiert, ich muß meinen Monolog, es ist ja ein Monolog geworden, abbrechen, ich weiß du möchtest jetzt fragen: 'Hast du, Lo, hast du persönlich was gegen diesen grenzenlosen, unbeschreiblichen Jammer unternommen, hat du Mut aufgebracht, dich gegen diesen ganzen Schund zu widersetzen, andere gegen diese Betrügereien zu mobilisieren?' Zugegeben, wobei die Frage zulässig ist: Sind wir aber nur Opfer? Nur die 'Betrogenen' Haben wir nicht mit unseren Zungen und Händen zu diesem gigantischen Betrug eigenes beigetragen? Wir, die wir uns heute als 'Betrigene' bezeichnen, haben wir nicht den anderen das Gift des Klassenkampfes, Klassenhasses, Klassenunterdrückung vermittelt? Haben wir nicht unendlich lange in die Köpfe unserer Mitbürger Liebe für Stalin und für den Kreml eingehämmert? Betrogene und zugleich Betrüger, das sind wir, das ist unsere Generation. In unseren Köpfen tobt noch immer der Kampf, die Flammen des II. Weltkrieges wurden in unseren Gehimen festgebetet. Wer könnte sie zum Erlöschen bringen? Es ist wie verhext: Ideale haben sie ausnahmslos als Chimäre erwiesen, aber ohne die Ideale, irgendwelche Ideale, können wir nicht mehr leben. |