II. FRIEDRICH HAVLICEK, JOSEF BINDER UND EMIL FUCHS

"Herr Professor Havlicek, muss ich demnächst sterben? Seien Sie endlich ehrlich zu mir!"
"Herr Dozent Fuchs, auch wenn sie mich bis morgen mit Ihren Fragen quälen würden, könnte ich Ihnen nichts anderes mitteilen als Sie bereits wissen. Sie müssen, begreifen Sie das, Sie müssen mit dieser Chemotherapie, die Sie verabscheuen und die ich nicht weniger hasse, fertig werden. Sie haben echte Chancen zu gesunden, aber nur unter der Bedingung, dass wir mit der Anwendung dieser Chemotherapie konsequent fortfahren. Schwester," wandte sich Professor Havlicek an Christa Leuchtenegger, "merken Sie vor, dass der Patient morgen nüchtern zur Blutabnahme in die Ambulanz kommt."
Bereits an der Tür, wandte er sich noch einmal Emil Fuchs zu: "Ihr Philosophen hegt immer Eure Zweifel, Ihr seid erzogen, an keine Dogmen zu glauben. Bei uns Medizinern ist das anders, wir halten uns an unsere Lehre und - passen Sie jetzt auf, denn gleich verrate ich Ihnen unser Erfolgsrezept! - insgeheim und ganz unter uns glauben wir fest an Wunder! Krebs muss nicht unbedingt zum Tod führen, wenn man mutig genug ist, vor ihm nicht zu kneifen. Mein gut gemeinter Rat lautet daher: Lassen Sie sich von ihm nicht besiegen, der Kampf mit ihm muss nicht zu seinen Gunsten entschieden werden -das ist es, was ich unser ‚Glück' nenne."
Danach verließ Friedrich Havlicek das Zimmer des Kranken, konnte aber die Tür hinter sich nicht schließen, weil gerade Stationsarzt Doktor Josef Binder herein kam, ohne seinen Vorgesetzten zu begrüßen: "Guten Morgen, Herr Dozent Fuchs. Na, gut geschlafen? Hat das Rohyphnol gut gewirkt? Was für ein Statement hat denn Professor Havlicek wieder einmal abgegeben? Große Thronrede?"
"Ich hätte angeblich, so behauptet er, eine gewisse Chance auf Genesung!"
"Unser Havlicek ist, Gott sei ihm gnädig, ist halt doch keine große Koryphäe. Haben Sie das mit Ihrer philosophischen Denkschärfe bereits erahnt?" Doktor Binder musste seinen Vorgesetzten aus tiefster Seele hassen.
"Mein Zustand ist also sehr kritisch?"
Stationsarzt Binder schaute das Krankenblatt von Dozent Fuchs mit echter oder auch nur gekünstelter Anstrengung an und er tat so, als ob er es zum ersten Mal studierte:
"Sagen wir es so: Haben sie eigentlich viel zu hinterlassen?"
"Bücher vor allem. Unendlich viele!"
"Und haben Sie Verwandte?"
"Nicht sehr viele."
"Ich würde an ein Testament denken, natürlich rein vorsorglich. Ich betone das Wort ‚vorsorglich'. Haben Sie übrigens einen guten Notar? Wenn nicht, ersuchen Sie Schwester Christa um ihren Beistand."
"Ich werde also bald sterben..."
"Jeder von uns wird eines Tages dahingehen. Das klingt nur scheinbar tragisch, da wir Katholiken wissen, dass wir auferstehen werden, vor allem jene, welche hier auf Erden bereits ihren Kreuzweg gegangen sind. Wie formuliert doch das Evangelium: Die Letzten werden die Ersten sein!"
"Glauben Sie wirklich daran, dass das eines Tages geschieht? Und wenn es geschieht, was dann? Sollte ich wider Erwarten auferstehen, wie verhalte ich mich dann? Wo finde ich meinen Referenten, der dort oben meine Sünden registriert hat? Wird er bevollmächtigt sein, mir die Absolution zu erteilen? Oder händigt er mir einen Zettel aus, den ich Gott überreichen muss, um endgültige Erlösung zu erlangen? Vielleicht geschieht es, dass der Himmel auf diesen Akt der Registrierung verzichtet? Angesichts mehrerer Milliarden Menschen, welche am Tage der Auferstehung ihren Anspruch auf ewiges Glück geltend machen würden, wäre so ein bürokratischer Akt doch ein recht aufwendiges Unterfangen. Und steht mir, einem alten Heiden, einem Agnostiker, die Auferstehung überhaupt zu? Vielleicht verzichte ich am Ende freiwillig darauf, sollte mir die Warteschlange bei den Schreibtischen derjenigen, die über die Auferstehung urteilen werden, zu lange werden. Würde ich dann das Anrecht auf ewige Erlösung verspielen? Für mich spräche sicher, dass ich über alle Maßen ungeduldig bin. Und was würde erst passieren, wenn nicht ich, sondern der Erlöser beim Fällen der Urteile seine Geduld verliert? Er könnte doch angesichts der endlosen Menge von Kandidaten für die Auferstehung ermüden. Dazu hat er doch das Recht, nicht wahr? Vielleicht wird er zum Schluss, um sich die Mühe dieser endlosen Arbeit zu ersparen, eine Art Generalamnestie verfügen und alle, alle, auch mich in den Himmel aufnehmen, so wie damals den lieben Augustin? Wohl nur dann würde ich in den Himmel kommen, denn angesichts meines endlosen Sündenregisters besteht für mich sonst kaum eine Chance auf Erlösung."

Doch Doktor Binders Gedanken waren nicht beim Kranken. Er hatte ihm nicht richtig zugehört, sondern unentwegt und fast zwangsneurotisch an Professor Havlicek gedacht und überlegt: "Der allerbeste Feind ist ein toter Feind. Wie könnte ich diesem alten Trottel wieder etwas Schmerzhaftes zufügen, damit er endlich erkennt, dass seine Zeit um ist und er das Spital verlassen muss?" Auf einmal spürte er die Stille im Krankenzimmer und es befiel ihn ein Gefühl der Beschämung, denn er sah sich außerstande abzuschätzen, wie lange diese Stille bereits Besitz von ihm und Emil Fuchs ergriffen hatte.

"Ihre Denkart, Herr Dozent", wandte er sich Oberarzt Binder ausweichend an den Kranken, "verblüfft mich. Auf solche Gedanken, die Sie hier entwickeln, wäre ich nie gekommen. Sind solche Gedanken nicht bereits eine Blasphemie? Mein Lieber, Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Ketzer!"
"Wenn ich keine Chance auf Genesung habe, dann ist ohnehin alles einerlei!"
In diesem Moment beschloss Emil Fuchs, die Gunst der Stunde zu nutzen, um vom Arzt endlich etwas ehrliches über seinen Gesundheitszustand oder, genauer ausgedrückt, über seine verhasste Krankheit zu erfahren. Die Gelegenheit schien günstig, denn Doktor Binder zeigte sich auf einmal konziliant wie nie zuvor!
"Wir Ärzte leisten bei der Übernahme unseres Diploms den hippokratischen Eid, der uns verpflichtet, unsere Patienten vor dem Tod zu bewahren, koste es was es wolle", sagte er, obwohl ihn niemand danach gefragt hatte.
"Aber Herr Doktor! Wenn dem so ist, wie steht es dann um die Anwendung des Prinzips der Zweckmäßigkeit? Machen wir doch einen Unterschied zwischen Pflichterfüllung und Paranoia! Ihr Wille, dem Patienten zu helfen, ist eines, etwas anderes sind die Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, und wieder etwas anderes sind die ungewollten Folgen einer Hilfeleistung. Ich will Ihnen das am Beispiel der Beziehung zwischen Mensch und Hund erläutern. Irgendwann in der Geschichte hat ein Mensch den Hund gezähmt, um sich mit seiner Hilfe vor den Gefahren ringsum zu schützen. Mit der Zeit entwickelte sich der nunmehr gezähmte Hund zum Hüter der Viehherde. Er lernte, über Schafe, Kälber und Ziegen zu wachen und begann, seinen Herrn, den Menschen, vor Bären, Wölfen und Füchsen zu warnen und ihn gegen diese zu verteidigen. Und dann kam die menschliche Paranoia. Die Beziehung wurde irgendwann umgestaltet. Der Mensch begann den Hund zu lieben, und auf einmal veränderte sich das gesamte System. Plötzlich - ist das nicht dramatisch? - begann der Mensch über den Hund zu wachen. Die Natur wurde derart korrigiert, dass der Helfer zum Hilfesuchenden wurde und der Hilfesuchende zum Helfer. Wollen Sie mich, lieber Doktor Binder, zum Schoßhund ihrer Klinik machen? Seit wann ist es zweckmäßig, einem Toten - und ich bin ja bereits einer, nicht wahr? - mit unermesslicher Mühe künstlich am Leben zu erhalten? Lassen wir doch der Natur ihren Willen!"
"Emil Fuchs, Sie sind ein bemerkenswerter Patient!" gab sich der Arzt verblüfft.
"Nein, Sie irren, Herr Doktor! Das einzige, was ich wirklich anstrebe, ist, mich nicht unnötig malträtieren und quälen zu lassen. Ich weiß doch genau, dass mich nichts mehr gesund machen wird."
"Ich werde Ihnen Schwester Christa herholen. Sie wird Sie gleich irgendwie aufrichten. Dafür hat sie eine bemerkenswerte Gabe..."
Er schickte sich gerade an, das Krankenzimmer zu verlassen, als ihn Emil Fuchs nochmals ansprach: "Herr Doktor, meinen Sie Schwester Christa Leuchtenegger?"
"Ja! Wen sonst?"
"Können Sie mir nicht eine andere schicken?"
"Weshalb?"
"Schwester Christa hat bereits einmal in meinem Leben Schicksal gespielt."
"Oh! Solche Nachrichten werden Professor Havlicek gar nicht freuen. Er steht nämlich auf sie, müssen Sie wissen!" meinte der Arzt.
"Das ist mir wirklich egal! Was hier zählt, ist allein der auf mich lauernde Tod!"
"Wenn das so ist, wenn Sie wirklich sterben wollen, dann reden Sie mit Professor Havlicek. Die Leute sterben zu lassen ist seine Spezialität und er kann hier auf bemerkenswerte und besonders beeindruckende Errungenschaften verweisen. Nur eines vergessen Sie bitte nicht, bevor Professor Havlicek in dieser Sache zu Ihnen kommt: den Notar! Denken Sie an Ihre Bücher und an Ihr Testament!"

 

 

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